Montag, 6. November 2006

Freistuss Nr. 45: Neue Gelassenheit in Cottbus

Schiedrichtersassistent

Der Zahnarzt aus Kaiserslautern, der Konzertpianist aus Kyllburg oder der Fertigungsleiter aus Hofheim zählen zweifellos zu den geläufigsten Begriffspaaren des Bundesliga-Alltags. Kaum ein Kommentator verzichtet während des stetig wiederkehrenden Motivs der Seitenwahl darauf, den Zuschauer mit diesen Basisinformationen zum Unparteiischen zu versorgen.

Dabei dürften sich die meisten Schiedsrichter kaum etwas sehnlicher wünschen, als einzig in dieser Sequenz der Berichterstattung im Mittelpunkt zu stehen, indiziert dieses Kunststück doch im Normalfall eine unauffällige und somit fehlerfreie Leitung. Eine Chance, die Babak Rafati am Samstag im Bremer Weserstadion verpasste.

Seither genießt auch der 36-jährige Bankkaufmann aus Hannover das sonderbare Privileg, allein durch die Nennung von Alter, Beruf und Wohnort identifizierbar zu sein – weil seine Pfeife im entscheidenden Moment stumm blieb und er unfreiwillig zum Protagonisten unzähliger Zusammenfassungen avancierte.

In der Nachspielzeit der Begegnung zwischen Tabellenführer Werder Bremen und Aufsteiger Energie Cottbus hatte Tim Wiese Gästespieler Sergiu Radu im eigenen Strafraum zu Fall gebracht, doch zur Überraschung selbst der Heimfans schickte der Referee nicht etwa einen Cottbuser Spieler an den Punkt, sondern den aufgebrachten Gäste-Coach Petrik Sander auf die Tribüne. "Wenn es da keinen Elfmeter gibt, dann weiß ich nicht, wann! Aber wir werden nicht nachkarten", so Sander, dessen Team durch die Fehlentscheidung des Spieltags um die Sensation gebracht wurde.

"Ich glaube, ich habe den Ball getroffen", meinte Werder-Schlussmann Wiese nach dem Abpfiff und schob die Verantwortung auf den Schiedsrichterassistenten. "Er stand sieben Meter weit weg und wird es schon richtig gesehen haben." Ein Kommentar, der so wenig mit der Realität zu tun hat, dass er das Prädikat "augenzwinkernd" verdient hätte. Wenn Tim Wiese denn auch nur ansatzweise für solcherlei Kommentare bekannt wäre.

Der 36-Jährige Bankkaufmann aus Hannover und seine Assistenten haben es eben sehr deutlich nicht richtig gesehen. Und dennoch dürfte diese Szene recht schnell in Vergessenheit geraten. Warum eigentlich?

Vielleicht, weil die Gäste aus der Lausitz lieber den einen gewiss nicht eingeplanten Zähler feiern als die zwei verpassten betrauern wollten? Weil der FC Energie mit sieben Punkten Vorsprung auf den ersten Abstiegsplatz momentan ausreichend Luft hat, um entspannt zu bleiben? Weil sich die Bundesliga-Saison noch immer in einem verhältnismäßig frühen Stadium befindet und noch nicht absehbar ist, ob dieser ausgebliebene Pfiff den Kampf um den Klassenverbleib letztlich negativ beeinflussen wird? Die Betrogenen übten sich jedenfalls in Zurückhaltung.

Noch vor Jahren haben die Dieter Kreins, die Klaus Stabachs und weiß Ede Geyer, wie sie alle hießen, doch kaum eine Gelegenheit ausgelassen, darauf hinzuweisen, dass der kleine Club aus Brandenburg ständig benachteiligt würde. Das oft unangebrachte Cottbuser Klagelied war regelmäßig zu vernehmen. Dass es am Wochenende fast gänzlich ausblieb, spricht sicherlich für die neue Führung des Vereins, diesmal hätte sich jedoch bestimmt kein Zuhörer genervt abgewandt. Meint zumindest der 28-jährige Kolumnist aus Hamburg-Bahrenfeld.

Montag, 30. Oktober 2006

Freistuss Nr. 44: Doll raus!

Doll-raus

"Wir schalten hinüber in den Hamburger Volkspark", hieß es jahrzehntelang im Hörfunk, wenn eigentlich das benachbarte Stadion gemeint war.

Die Grünanlage im Stadtteil Bahrenfeld war republikweit als Synonym für die Heimspielstätte des Hamburger Sport-Vereins bekannt und kein Zuhörer wäre je auf die Idee gekommen, dass sich tatsächlich einmal jemand melden könnte, um eine Wald- und Wiesengeschichte zu erzählen. Manchmal jedoch lohnt sich genau das.

Das Schreiben von Sport-Kolumnen taugt leider nicht als Herz-Kreislauf-Training und so dient mir das komplizierte Wegenetz an der Arena, deren Name sich natürlich längst nicht mehr auf den angrenzenden Park bezieht, regelmäßig als Laufstrecke. Auch am vergangenen Samstagvormittag.

Vorbei am orangefarbenen Kuppelzelt, aus dem wenige Stunden später Moderator Oliver Welke das Publikum des Bezahlfernsehens begrüßen würde, trabte ich gedankenversunken vor mich hin, als mir ein älterer Herr auffiel, der merkwürdig angespannt vor einem der Mülleimer stand. "Das muss doch wirklich nicht sein", murmelte er, während er mit einer Münze versuchte, einen bekritzelten Aufkleber vom Abfallbehälter zu entfernen.

Und plötzlich nahm ich sie zum ersten Mal richtig wahr, die zahlreichen "Doll raus!"-Aufkleber, mit denen der Weg am Stadion in den vergangenen Wochen dekoriert wurde. Eine denkbar deutliche Meinungsbekundung aus nur acht Buchstaben. Fleißig verklebt und weit weniger vergänglich als jeder noch so laute Zwischenruf aus der Kurve. Unmut im DIN A6-Format.

"Ich hätte gedacht, dass wir einen Schritt weiter sind", erklärte HSV-Coach Thomas Doll nun nach dem mageren Remis gegen Hannover. "Wir haben noch einen weiten und harten Weg vor uns." Dabei bezog er sich vermutlich nicht auf die Aufkleber oder gar den alten Mann und sein scharfkantiges Kleingeld, der nach dem ersten Saisonsieg so entschlossen seine Solidarität mit dem Übungsleiter gezeigt hatte.

Vielleicht lässt sich die seltsame Stimmung im Umfeld des Vereins aber wirklich am besten durch das wechselnde Mengenverhältnis von "Doll raus!"-Aufklebern und tatkräftigen Senioren beschreiben. (In der ersten Version dieses Textes hieß es übrigens abkratzenden Senioren - das könnte jedoch missverständlich sein...)

Eventuell ist der Weg am Volkspark ja tatsächlich als perfekter Indikator für eine mögliche Entlassung des Hamburger Trainers zu verstehen. Nach den kommenden Partien in Wolfsburg und Stuttgart lohnt es sich gewiss, neu auszuzählen. Unter Umständen hat man beim Laufen aber auch deutlich zu viel Zeit und fängt irgendwann damit an, brisante Fußball-Geschichten auch dort zu entdecken, wo es eigentlich keine gibt. Zum Beispiel im Hamburger Volkspark.

(Christian Helms, sportal.de)

Montag, 16. Oktober 2006

Freistuss Nr. 43: Die Tabelle lügt nicht mehr

Tabelle

Nach der schmerzhaften 0:6-Niederlage gegen den deutschen Vizemeister fand Marcel Koller, Cheftrainer des VfL Bochum, bemerkenswerte Worte: "Wir müssen anerkennen, dass Bremen nicht unsere Klasse ist." Bemerkenswert nicht etwa deshalb, weil zu dieser Schlussfolgerung nicht auch jeder andere der gut 31.000 Beobachter im Stadion in der Lage gewesen wäre, sondern weil der Schweizer damit präzise die Lehre des siebten Spieltags formulierte.

Ein Spieltag, der sich ganz deutlich von seinen sechs Vorgängern unterschied; weil beispielsweise dem Tabellenführer aus Berlin eben nicht noch der schmeichelhafte Ausgleich in der Allianz-Arena glückte, sondern stattdessen Lukas Podolski endlich seinen ersten Ligatreffer für den FC Bayern München erzielte.

Weil Frings, Klose und Co. den VfL Bochum nicht etwa mühevoll niederrangen und hinterher beklagten, dass die anstrengende WM noch in den Knochen stecke, sondern stattdessen den chancenlosen Aufsteiger professionell in seine Einzelteile zerlegten.

Eine Runde, die sich auch dadurch abhob, dass das Aufeinandertreffen zwischen dem Hamburger SV und dem FC Schalke 04 eben nicht mit einer diplomatischen Punkteteilung endete, sondern mit einem Ergebnis, das beiden Teams unmissverständlich eine Richtung wies. Während sich Thomas Dolls traurige Ballade ("Wir stehen wieder mal mit leeren Händen da...") noch eine Weile in den Bundesliga-Charts halten wird, orientiert sich Königsblau weiter nach oben.

Erstmals lohnt der Blick auf die Tabelle. Inzwischen weist das Zahlenwerk nämlich sehr deutlich aus, welches Trio sich höchstwahrscheinlich um die Meisterschale balgen wird. Sie deutet zudem an, welch ordentliche Arbeit bislang in Aachen und Mönchengladbach abgeliefert wurde und zeigt unverhohlen, dass nicht nur Bremen nicht Bochums Klasse ist. Die Tabelle lügt nicht mehr, die Liga gewinnt zunehmend an Kontur. Die merkwürdig unverbindliche Auftaktphase dieser Spielzeit scheint endgültig beendet.

"Anerkennen müssen" – darum geht es nach dieser siebten Runde. In Bochum. In Hamburg. In Hannover. Eigentlich überall.

(Christian Helms, sportal.de)

Montag, 9. Oktober 2006

Freistuss Nr. 42: Superzahl Mazedonien

Lotto

Die Vorstellung, morgens in aller Ruhe zum Bankautomaten zu schlendern und dort zu überprüfen, ob unter "Kontostand" neuerdings tatsächlich etwa 37.000.000,00 EUR ausgewiesen werden, hat schon etwas Faszinierendes.

Dass der Traum vom großen Geld durch ein einziges ausgefülltes Kästchen auf einem Lottoschein zur Realität wird, ist allerdings verhältnismäßig unwahrscheinlich. Die Chance auf den Jackpot liegt bei lediglich eins zu 139.838.159 – und damit ähnlich hoch wie jene, dass millionenschwere russische Erdgasförderunternehmen plötzlich auch Interesse zeigen könnten, Privatpersonen zu sponsern. Es muss andere Wege geben, mit mäßigem Aufwand zu einem übermäßigen Vermögen zu kommen.

Die Geschichte mit den Kreuzchen und den kleinen Kugeln war mir ohnehin immer etwas suspekt. Ohne jegliches Vorwissen soll man sich für sechs Zahlen entscheiden und ist anschließend machtlos dem Zufall ausgeliefert? Die Wahrscheinlichkeit, dass beispielsweise ausgerechnet die "28" einige Sekunden lang aus dem Bildschirm in die heimischen Wohnzimmer blicken darf, ist nicht größer oder kleiner als die, dass dieses Schicksal einen ihrer 48 Mitstreiter trifft. Beim Lotto gibt es einfach keine Argumente.

Echte Gewinnertypen platzieren stattdessen Sportwetten. Ganz konservativ, versteht sich. Schließlich haben Voraussagen über die Endresultate von Fußballspielen nichts, aber auch gar nichts mit Glücksspiel zu tun. Man schaut nicht auf die Quoten, man setzt nicht auf seinen Lieblingsclub – und sollte mit einer ausgewogenen Mischung aus Fachwissen und Laienpsychologie auf der sicheren Seite sein.

Die Qualifikationsgruppen zu großen Turnieren sind dabei des Tippers "El Dorado". Während sich in der Bundesliga zwischen Hamburg und München, Aachen und Cottbus die qualitativen Unterschiede von Wochenende zu Wochenende mehr angleichen, gibt es sie auf kontinentaler Ebene nämlich noch – klare Favoriten.

Mit einer bodenständigen Vierer-Kombination wähnte ich mich am Sonnabend auf Erfolgskurs: Englands Kicker haben zwar während der WM den Zuschauer nur selten entzückt; gegen Mazedonien sollte es jedoch immer reichen, zumal vor mehr als 70.000 Zuschauern im "Old Trafford".

Dass die Spanier nach dem blamablen 2:3 in Nordirland bei den im Umbruch befindlichen Schweden groß auftrumpfen würden, stand für mich ebenso außer Frage, wie die Überlegenheit des Vize-Weltmeisters Frankreich in Glasgow. Und um die Sache abzurunden, fand auch noch der unvermeidliche irische Auswärtssieg auf Zypern Eingang in meine "Selbstläufer"-Wette. "Leichter kann man sein Geld nicht versechsfachen", hatte ich mittags noch gedacht. Und wurde eines Besseren belehrt.

Im Grunde ist Fußball nichts anderes als "28, 30, 31, 34, 41, 48 und die Superzahl 4". Mit dem einzigen Unterschied, dass deutlich mehr darüber geschrieben und geredet wird.

(Christian Helms, sportal.de)

Donnerstag, 5. Oktober 2006

Fix & Foxi aus dem magischen Tal

Die Erzählung von "Pinocchio", dem kleinen Holzjungen aus der Werkstatt des Tischlermeisters Gepetto, ist zweifelsohne eine der berühmtesten der Weltliteratur. Auch deshalb entschieden sich die Veranstalter der Fußball-Europameisterschaft 1980 in Italien, ihr eine weitere Ehre zu erweisen und ernannten die in der ganzen Welt beliebte Figur aus der Feder Carlo Collodis damals zum Maskottchen des Turniers. So einfach kann es funktionieren.

EURO2008

Ob man im Land des Weltmeisters heute noch einmal so handeln würde, ist übrigens fraglich. Eine Gestalt, deren Nase je nach Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen unterschiedliche Dimensionen annimmt, wäre nach den jüngsten Mauscheleien im italienischen Calcio wohl kaum vermittelbar. Doch diese Frage stellt sich ja auch gar nicht.

Exakt 619 Tage vor dem ersten Anstoß der Europameisterschaft 2008 wurden nun in Wien die offiziellen Maskottchen der kontinentalen Meisterschaft in Österreich und in der Schweiz vorgestellt. Rund 4.000 Arbeitsstunden investierte die Firma Warner Bros. nach eigenen Angaben und präsentierte schließlich "Pinocchios" Erben: ein maskiertes Zwillingspaar in rot-weißer Fußballmontur, das zwar noch auf seine Namenstaufe wartet, dafür aber mit einer umfangreichen Interpretationshilfe ausgeliefert wurde.

Dass die kickenden Knaben die Nationalfarben der beiden Gastgeberländer aufgreifen, durchschaut der Betrachter wahrscheinlich noch recht schnell. Ebenso deutlich formen die Zahlen "20" und "08" eine Jahreszahl. Und auch die Alpen-Silhouette, die schon ins Turnierlogo eingearbeitet wurde und nun die Masken der beiden Kreaturen sichtlich beeinflusste, bedarf keiner längeren Erklärung. Dass die noch namenlosen Brüder einem "magischen Tal" entstiegen seien, erfährt der Fan hingegen erst aus der schwülstigen Erklärung der Uefa.

Dort heißt es zudem: "Ihre fantastischen Fähigkeiten gehen Hand in Hand mit ihren vorbildlichen Lebenseinstellungen. Eine mächtige Stimme sagt ihnen, dass sie es im Fußball sehr weit bringen werden, dass sie diesen Zauber versprühen können, wenn sie nur hart genug trainieren. Sie sind der Beweis dafür, dass es im Fußball keinen Platz für Feindseligkeit und Egoismus gibt – die Zwillinge zeigen, dass man nur zusammen erfolgreich sein kann. Um zu demonstrieren, dass es nicht auf das Aussehen ankommt, entschieden sie sich, Masken zu tragen. Die inneren Werte sind es, die wichtig sind." Offensichtlich hat man sich in den 4.000 Arbeitsstunden ausgiebig Gedanken gemacht…

Die Zwillinge aus dem magischen Tal stünden überdies stellvertretend für die unterschiedlichen Auffassungen des Spiels: Während die "20" mit dem lässig über der Hose getragenen Trikot und den hinunter gerollten Stutzen das kreative Element des Fußballs verkörpere, bringe die streng den Vorschriften entsprechend gekleidete "08" die Grundtugenden Disziplin und Kontrolle ein, so die offizielle Lesart. In anderen Worten: Der eine repräsentiert den Fußball, nach dem sich die Zuschauer sehnen; der andere jenen, den sie bei den jüngsten Turnieren zu sehen bekamen.

"Zagi und Zigi", "Flitz und Bitz" oder "Trix und Flix" – zwischen diesen drei Namenskombinationen dürfen sich die Österreicher und Schweizer noch eine Woche lang entscheiden. Darüber befinden, ob das Glücksbringer-Duo ein Erfolg wird, dürfte hingegen vor allem das Ausland. Und das wünscht sich oft eher ein griffiges Klischee als mitgelieferte Sekundärliteratur. Zuletzt scheiterte an dieser Problematik "Goleo VI", der deutsche Problemlöwe.

"So positionieren wir uns als Pseudo-Disney-Dilettanten", wetterte beispielsweise der Schweizer Designer Peter Vetter. Es hätten ja nicht unbedingt die "Sachertorte Ötzi und der Käselaib Bobo" sein müssen, die die Welt in den Alpenländern begrüßen. Auch nicht "der Kaffeehausbetreiber und die Bankierstochter". Doch ob sich die Legende vom magischen Tal als Wiege der Fußballkunst wirklich besser verkaufen lässt, bleibt abzuwarten.

An welche Vorfahren der alpinen Zwillinge mit den roten Masken erinnert man sich heute überhaupt noch? Auf das allererste EM-Maskottchen, Pinocchio, den hüftsteifen Holzkopf mit dem grün-weiß-roten Zinken im Gesicht, wurde hier bereits ausführlich eingegangen. Ihm folgte Peno, der gallische Hahn, der die Franzosen 1984 äußerst zurückhaltend auf dem Weg zu ihrem ersten internationalen Triumph begleitete.

Unvergessen dürfte zumindest hierzulande der agile Hase Bernie sein, der weitere vier Jahre später durch Deutschland tingelte; der seine Schweißbänder übrigens nicht etwa deshalb trug, weil er dadurch die inneren Werte in den Vordergrund rücken wollte – sondern ganz einfach, weil er schwitzte. In frischen Trainingsklamotten gelang es ihm überraschend, auch beim Turnier in Schweden wieder mit von der Partie zu sein. Zumindest sah ihm das namenlose Maskottchen, das die Skandinavier 1992 verwendeten, auffallend ähnlich.

Hilflos musste vier Jahre später der breitschultrige Löwe Goaliath mit ansehen, wie Andreas Köpke im alten Wembley-Stadion den entscheidenden Elfmeter von Gareth Southgate parierte. Im Jahr 2000 einigten sich die gemeinsamen Gastgeber Niederlande und Belgien auf ein Kompromiss-Maskottchen: Benelucky, ein fünffarbiger, bedrohlich kopflastiger Löwe mit Teufelshörnern.

Kinas (2004), dem kleinen Jungen aus einem noch kleineren portugiesischen Dorf, eilten schließlich ähnliche Legenden voraus wie dieser Tage den Gesellen aus der Schweiz und Österreich. In wahrhaft coolen Animationsfilmen demonstrierte er seine hohe Ballfertigkeit, doch gerade, als er sich anschickte, im eigenen Land zum Liebling der Massen zu werden, kam ihm Ehrengrieche Otto Rehhagel in die Quere.

"Modern ist, wer gewinnt", hieß es am Ende dank des goldenen Treffers von Angelos Charisteas – und selbst der schnittige Kinas sah plötzlich fast so alt aus wie Pinocchio...

(Christian Helms, sportal.de)

Montag, 2. Oktober 2006

Freistuss Nr. 41: Mathematik bei Herrn Kahn

Meist presst Oliver Kahn seine Laute regelrecht hervor. Der Schlussmann des FC Bayern wirkt dabei oft so angestrengt, als wollte er nicht nur der Fußball-Welt, sondern auch allen Logopäden auf diesem Planeten demonstrieren, wie hart man arbeiten muss, um Erfolg zu haben. Dreimal Welttorhüter des Jahres, die Champions League oder die menschliche Stimme – so etwas erreicht man eben nur, wenn man immer bereit ist, an seine Grenzen zu gehen. Entspannen sollen gefälligst andere.

Bemühte Oliver Kahn schon unmittelbar nach den Pleiten in Bielefeld ("Es reicht eben nicht zu glauben, man könne mit 60 oder 70 Prozent gewinnen.") und Wolfsburg ("Der FC Bayern muss überall, wo er auftritt, 120 Prozent geben.") die höhere Mathematik, hat der Keeper am späten Samstagabend offensichtlich noch einmal ganz genau nachgerechnet.

Zwar gab er nicht bekannt, welcher Aufwand nun tatsächlich für den nächsten nationalen Titel vonnöten sein wird, kam aber zu einer überraschend gelassenen Einsicht. In seiner Stimme lag plötzlich auch kaum mehr etwas Verbissenes. "Wenn Du solche Spiele wie in Bielefeld oder in Wolfsburg vergeigst, wirst Du eben nicht mit zehn Punkten Vorsprung Meister, sondern nur mit einem." In der Bundesliga darf es halt auch gerne mal ein bisschen weniger sein. Es reicht ja trotzdem.

Das Wort Länderspielpause signalisierte dem Titanen jahrelang Länderspiel und nicht etwa Pause. Heute bedeutet es, sich zunächst einmal bei "Wetten, dass..?" auf die gemütliche Couch zu kuscheln, der Sängerin Pink dabei möglichst unauffällig aufs Hinterteil zu lugen, um dann am nächsten Tag mit Claudio Pizarro übers Oktoberfest zu schlendern. Vom Prozent- zum Promillerechner.

Und warum auch nicht? Oliver Kahn weiß genau, dass der Fehlstart der Bayern in den kommenden zwei Wochen kein großes Thema sein wird, weil es gleichzeitig ein Fehlstart der gesamten Liga ist. Knapp 18 Prozent der Saison sind nun absolviert und das Spitzenreiterquintett – ein phänomenales Wort… – hat gerade einmal 56 Prozent der möglichen Punkte eingefahren. Die höchste deutsche Spielklasse kämpft weiterhin ähnlich verzweifelt um Struktur wie das Mittelfeld des Hamburger SV.

Der nach Mike Hankes Treffer gegen die Bayern übrigens der letzte Club der Liga ist, der lediglich null Promille seiner Spiele gewonnen hat. Selbst Thomas Doll könnte diese Quote höchstens noch in Richtung "null Prozent" schönreden, mehr aber auch nicht. Auf einen Abstiegsplatz abgerutscht und absurderweise gleichzeitig einer der Gewinner des Spieltags; immerhin hat man einen Punkt auf den Tabellenführer gut gemacht.

Wer das momentan ist, interessiert dabei im Grunde auch niemanden – schließlich hat Olli Kahn ja schon errechnet, wie die Saison enden wird.

(Christian Helms, sportal.de)

Montag, 25. September 2006

Freistuss Nr. 40: Zur Lage der Nation

Zwischen gefrorenem Gammelfleisch, einer zerredeten Gesundheitsreform und einem entgleisten Transrapid, so sollte man zumindest meinen, dürfte es König Fußball doch gar nicht so schwer fallen, durch positive Schlagzeilen aufzufallen. Doch statt der Republik das Gefühl zu vermitteln, dass momentan mitnichten alles schief läuft, dümpelt die Liga weiter bemerkenswert niveauarm vor sich hin.

Die "Alte Dame" aus Berlin wurde nach ihren sieben Tagen Ruhm wieder aus der herbstlichen Sonne geschoben, damit der begehrte Spitzenplatz frei wird für den Rekordmeister. Nicht berauschender Champagner-Fußball – oder wenigstens solide Festbier-Braukunst – führten Michael Ballacks Erben zurück auf die Normalposition; vielmehr ein rabenschwarzer Tag des Unparteiischen Markus Schmidt, der zuweilen so einseitig zu Ungunsten der tapferen Aachener entschied, dass selbst die kroatischen Gebrüder Sapina bei der abendlichen Sportschau die Stirn in Falten gelegt haben dürften.

Auf Schalke wurde derweil das Experiment "Teambuilding durch exzessives Stille-Post-Spiel" abgebrochen; vielleicht ja mit der Einsicht, dass man seine internen Probleme im Grunde genau so effektiv im Nachmittagsfernsehen von Richterin Barbara Salesch lösen lassen könnte. Immerhin gewinnen die Gelsenkirchener ihre Heimspiele; das reicht, um vorne mit dabei zu sein. Wirklich ansehnlich ist es indes nicht.

Die beiden Clubs aus dem Norden, die im vergangenen Spieljahr noch so viel Freude bereiteten, Werder Bremen und der Hamburger SV, verpassten am Samstag die große Gelegenheit, sich aus der Krise zu treten. Je ein Tor und ein fliegender Teppich mit gesundheitsgefährdenden Schraubstollen-Fransen, das war's auch schon. Der große Wurf gelang keinem, zum Glück auch nicht den Denksportlern auf der Nordtribüne der AOL-Arena, die ganz offensichtlich nicht einmal den Sinn des Schraubverschlusses einer Kräuterlikörflasche verstanden haben.

Wenig Erbauliches – und dennoch pilgern die Zuschauer weiter in Scharen in die modernen Arenen. Mehr als 40.000 im Liga-Schnitt. Quervergleiche auf europäischer Ebene, wie sie unter der Woche wieder anstehen, sind dabei mittelfristig fast schon eine echte Gefährdung für das, warum auch immer, so gut funktionierende Gebilde Fußball-Bundesliga, bekommt der Fan doch dort unter Umständen vor Augen geführt, welch minderwertiges Produkt er im Zwei-Wochen-Rhythmus eigentlich erwirbt.

Der HSV gastiert am Dienstag in Moskau, am Mittwoch erwartet Werder Bremen den Titelverteidiger aus Barcelona und der FC Bayern darf sich im Giuseppe-Meazza-Stadion mit der Weltauswahl von Inter Mailand messen. Nein, ich rechne auch in dieser Woche nicht mit freudigen Schlagzeilen. Es sei denn natürlich, in der Gesundheitsreform wird endlich ein Kompromiss gefunden.

(Christian Helms, sportal.de)

Montag, 18. September 2006

Freistuss Nr. 39: Die Ein-Klassen-Gesellschaft

Auch als Hertha BSC vor knapp sechs Jahren letztmalig die Tabellenspitze der Fußball-Bundesliga erklommen hatte, gehörte Dick van Burik schon zur Berliner Stammformation. Damals, im Dezember 2000, hatte der Niederländer nach dem wenig beeindruckenden 2:2 gegen den SC Freiburg mit dem Verweis auf die patzende Konkurrenz erklärt: "Das Gute ist, dass in der Bundesliga derzeit jeder jeden schlagen kann. Das macht die Saison so interessant."

Und genau von dieser Tatsache profitiert der Hauptstadt-Club auch dieser Tage wieder. Acht Punkte nach vier Spieltagen – das hätte im vergangenen Jahr gerade einmal für den vierten Rang gereicht. Hinter jenem Trio, das damals das Maß aller Ligadinge war: Der FC Bayern München, Werder Bremen und der Hamburger SV hatten gemeinsam zum Vergleichszeitpunkt der Vorsaison bereits stolze 32 Zähler (12/10/10) auf der Habenseite, heute gerade einmal 16 (7/6/3).

In der höchsten deutschen Spielklasse schlägt momentan tatsächlich jeder jeden. Nur Hertha BSC, der 1. FC Nürnberg und Eintracht Frankfurt sind noch unbesiegt, auch wenn man das Publikum nicht mit millionenschweren Nachverpflichtungen oder begeisterndem Hurra-Fußball bei Laune hielt. "In der Bundesliga gibt es keinen Schönheitspreis zu gewinnen. Hier zählt nur der Erfolg", umschrieb beispielsweise Petrik Sander, Coach des Tabellenvierten Energie Cottbus, das neue Ligagefühl. Effizienz ist geil!

Diese wiederum scheint der Deutsche Meister nach Jahren des humorlosen Dauersiegens noch zu suchen. Die sensationelle 1:2-Pleite von Bielefeld provozierte beim FC Bayern zumindest ein heilloses Durcheinander an Erklärungsversuchen, das weit über die klassischen Ausflüchte "englische Woche" und "kräftezehrende Weltmeisterschaft" hinausging. Letztlich macht auch die Tatsache, dass man in München noch zwischen "Wir müssen offensiver spielen" (Philipp Lahm) und "Wir dürfen nicht so offensiv spielen" (Oliver Kahn) schwankt, die Saison so interessant.

Womit wir wieder beim fast sechs Jahre alten Ausspruch Dick van Buriks wären. Von einer Bundesliga, in der jeder jeden schlagen kann. Und die in der Tat lange nicht mehr so viel Spannung versprochen hat wie in dieser Spielzeit.

(Christian Helms, sportal.de)

Montag, 11. September 2006

Freistuss Nr. 38: Musik und Bratwurst

Vehement hatte Thomas Doll seine Spieler davor gewarnt, die Dienstreise nach Stuttgart-Degerloch als entspannten Betriebsausflug zu verstehen. "Es wird dort ein bisschen Musik gespielt werden und nach Bratwürsten riechen", prophezeite der HSV-Coach vor der Pokal-Prüfung beim Regionalligisten Stuttgarter Kickers. "Man kommt sich dann schnell vor wie in der Vorbereitung." Sehr schnell offensichtlich, am Ende stand ein peinliches 3:4.

Das Aus der Hamburger war dabei kein Einzelfall: Gleich fünf Bundesligisten verabschiedeten sich im Bratwurstdunst der Fußballprovinz bereits in der ersten Runde aus dem Wettbewerb. "Es reicht nicht, den Anspruch zu haben, erste Wahl zu sein. Man muss es auch zeigen", so Bremens Thomas Schaaf, dessen Elf in Pirmasens zuvor ebendies eindrucksvoll versäumt hatte.

In der Regionalliga werde halt mittlerweile genau so oft trainiert, zudem sei der Außenseiter in diesen "Jahrhundert-Spielen" besonders motiviert, lauten die altbekannten Erklärungsansätze. Auch die Länderspielpause oder die anstehenden Duelle mit den Top-Teams aus der Premier League wurden mehrfach angeführt. In Cottbus, Mainz und Bielefeld
seltener, zugegebenermaßen.

Fünf Sensationen, während sich im Vorjahr lediglich der 1. FC Köln blamierte – wenn davon nach einem 1:3 beim Zweitligisten Offenbach überhaupt die Rede sein kann. BVB-Schlussmann Roman Weidenfeller faselte übrigens nach dem wenig ruhmreichen 3:0-Sieg beim Fünftligisten TSG Thannhausen: "Es ist schwer zu spielen, wenn sich ein ganzes Dorf gegen einen stemmt." Sicher doch. Und seine eigenen Gesetze hat der Pokal natürlich auch…

An einen statistischen Aussetzer mag in einer Zeit, da jedes Ereignis als Start- oder Endpunkt eines Trends begriffen wird, sowieso niemand glauben. Deshalb betrachten wir die Fußball-Woche einmal in ihrer Gesamtheit; eine Woche, in der das Kräftemessen zwischen David und Goliath durchaus als Leitmotiv angesehen werden darf.

So könnten die 13 Tore von San Marino letztlich doch einen größeren sportlichen Wert gehabt haben, als zunächst angenommen wurde. Vielleicht hat ja das Schützenfest von Serravalle manchem Profi suggeriert, dass Berti Vogts doch Unrecht hatte mit seiner Behauptung, es gebe keine Kleinen mehr im Welt-Fußball. Vielleicht hat mancher tatsächlich geglaubt, Werder Bremen verhalte sich zu FK Pirmasens ähnlich wie WM-Dritter zu Zwergstaat bei Rimini, der einmal gegen Liechtenstein gewonnen hat.

Nur ein Gedanke – unter Umständen riecht es in San Marino auch schlicht und ergreifend nicht so sehr nach Bratwurst.

(Christian Helms, sportal.de)

Montag, 4. September 2006

Freistuss Nr. 37: Schwere Geburt, schönes Kind

Nicht mehr nur mit der Zusammen-, Auf- und Einstellung der Nationalmannschaft muss sich ein Bundestrainer heutzutage herumschlagen. Die öffentliche Wahrnehmung des Auswahlteams hängt längst nicht mehr ausschließlich von den sportlichen Ergebnissen ab, sondern in mindestens gleichem Maße vom Auftreten des Chefs.

Im Laufe seiner Amtszeit entwickelt dabei jeder Bundestrainer zwangsläufig seine ganz eigene Rhetorik; seine unverwechselbare Art, der Öffentlichkeit zu verkünden, wie der Gegner zu bezwingen sei, und nach dem Abpfiff zu erklären, warum es schließlich anders kam. Der Bundestrainer ist zudem spätestens in diesem Jahrzehnt zum nationalen Fußball-Vordenker aufgestiegen, dessen kurze Statements oftmals zu ganzen "Philosophien" aufgeblasen werden.

Ein kurzer Blick zurück: Rudi Völler trat noch meist im traditionellen Trainingsanzug vor die Kameras und analysierte in einfachen, klaren Worten des Deutschen liebstes Spiel. Ein Bundestrainer zum Anfassen – "unser Rudi" eben. Volksnah, bodenständig und emotional, im Erfolg wie in der Niederlage. Oder nach dem berühmten Remis von Reykjavik, als er den Dreiklang "Mist, Käse, Scheißdreck" in echte Klassiker des Fußballvokabulars verwandelte und ganz nebenbei Waldemar Hartmanns Trinkgewohnheiten hinterfragte.

Auch Nachfolger Jürgen Klinsmann brachte neben frischem Wind sein ganz persönliches Vokabular mit. Dank "Flat Four" und "konsequentem Vertikal-Spiel" zur erfolgreichen "Challenge 2006" – und immer schön positiv denken! Klinsmann räumte auf beim DFB. Reformgefährdende Objekte wie Sepp Maier oder der Singular verschwanden in der Mottenkiste, damit "wir das große Ziel Weltmeisterschaft nicht aus den Augen verlieren".

Wie wird Jogi Löw sich also positionieren? Bis zum Wochenende wirkte er bemerkenswert unaufgeregt, betont pragmatisch und dabei trotzdem keineswegs kühl und unsympathisch. Genau der richtige Mann für die undankbare Aufgabe, die Nationalelf nach der Euphorie des Sommers 2006 durch das trübe Fahrwasser der EM-Qualifikation zu navigieren. Doch nach dem knappen Sieg über die Iren sagte er leider etwas überraschend Bräsiges, das in seinem Klang eher and die Herren Ribbeck oder Vogts erinnerte: "Manchmal gibt auch eine schwere Geburt ein schönes Kind."

Sicher, der Bundestrainer war erleichtert über sein geglücktes Pflichtspieldebüt als Alleinverantwortlicher der Auswahlmannschaft, was allerdings keine Rechtfertigung ist, die Welt mit fragwürdigen Hebammenweisheiten zu versorgen. Schon am Mittwoch bietet sich Kalenderspruch-Jogi die Gelegenheit zur Wiedergutmachung. Aufmerksam sollte man die Pressekonferenz nach dem San Marino-Spiel verfolgen, noch ist das gebrannte Kind schließlich nicht in den Brunnen gefallen…

(Christian Helms, sportal.de)

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