Freistuss Nr. 45: Neue Gelassenheit in Cottbus

Der Zahnarzt aus Kaiserslautern, der Konzertpianist aus Kyllburg oder der Fertigungsleiter aus Hofheim zählen zweifellos zu den geläufigsten Begriffspaaren des Bundesliga-Alltags. Kaum ein Kommentator verzichtet während des stetig wiederkehrenden Motivs der Seitenwahl darauf, den Zuschauer mit diesen Basisinformationen zum Unparteiischen zu versorgen.
Dabei dürften sich die meisten Schiedsrichter kaum etwas sehnlicher wünschen, als einzig in dieser Sequenz der Berichterstattung im Mittelpunkt zu stehen, indiziert dieses Kunststück doch im Normalfall eine unauffällige und somit fehlerfreie Leitung. Eine Chance, die Babak Rafati am Samstag im Bremer Weserstadion verpasste.
Seither genießt auch der 36-jährige Bankkaufmann aus Hannover das sonderbare Privileg, allein durch die Nennung von Alter, Beruf und Wohnort identifizierbar zu sein – weil seine Pfeife im entscheidenden Moment stumm blieb und er unfreiwillig zum Protagonisten unzähliger Zusammenfassungen avancierte.
In der Nachspielzeit der Begegnung zwischen Tabellenführer Werder Bremen und Aufsteiger Energie Cottbus hatte Tim Wiese Gästespieler Sergiu Radu im eigenen Strafraum zu Fall gebracht, doch zur Überraschung selbst der Heimfans schickte der Referee nicht etwa einen Cottbuser Spieler an den Punkt, sondern den aufgebrachten Gäste-Coach Petrik Sander auf die Tribüne. "Wenn es da keinen Elfmeter gibt, dann weiß ich nicht, wann! Aber wir werden nicht nachkarten", so Sander, dessen Team durch die Fehlentscheidung des Spieltags um die Sensation gebracht wurde.
"Ich glaube, ich habe den Ball getroffen", meinte Werder-Schlussmann Wiese nach dem Abpfiff und schob die Verantwortung auf den Schiedsrichterassistenten. "Er stand sieben Meter weit weg und wird es schon richtig gesehen haben." Ein Kommentar, der so wenig mit der Realität zu tun hat, dass er das Prädikat "augenzwinkernd" verdient hätte. Wenn Tim Wiese denn auch nur ansatzweise für solcherlei Kommentare bekannt wäre.
Der 36-Jährige Bankkaufmann aus Hannover und seine Assistenten haben es eben sehr deutlich nicht richtig gesehen. Und dennoch dürfte diese Szene recht schnell in Vergessenheit geraten. Warum eigentlich?
Vielleicht, weil die Gäste aus der Lausitz lieber den einen gewiss nicht eingeplanten Zähler feiern als die zwei verpassten betrauern wollten? Weil der FC Energie mit sieben Punkten Vorsprung auf den ersten Abstiegsplatz momentan ausreichend Luft hat, um entspannt zu bleiben? Weil sich die Bundesliga-Saison noch immer in einem verhältnismäßig frühen Stadium befindet und noch nicht absehbar ist, ob dieser ausgebliebene Pfiff den Kampf um den Klassenverbleib letztlich negativ beeinflussen wird? Die Betrogenen übten sich jedenfalls in Zurückhaltung.
Noch vor Jahren haben die Dieter Kreins, die Klaus Stabachs und weiß Ede Geyer, wie sie alle hießen, doch kaum eine Gelegenheit ausgelassen, darauf hinzuweisen, dass der kleine Club aus Brandenburg ständig benachteiligt würde. Das oft unangebrachte Cottbuser Klagelied war regelmäßig zu vernehmen. Dass es am Wochenende fast gänzlich ausblieb, spricht sicherlich für die neue Führung des Vereins, diesmal hätte sich jedoch bestimmt kein Zuhörer genervt abgewandt. Meint zumindest der 28-jährige Kolumnist aus Hamburg-Bahrenfeld.
freistuss - 6. Nov, 12:40



