Dienstag, 29. August 2006

Freistuss Nr. 36: Der Typ, der nur den Pfosten traf

Auf meiner Abi-Fahrt entschloss sich mein Jahrgangskollege Carsten während eines Fährausflugs durch die dänische Nordsee urplötzlich, die Tischdekoration zu verspeisen. Der ansonsten durchaus intelligente junge Mann hatte an diesem Nachmittag deutlich zu viel getrunken – kein Novum auf solcherlei Ausfahrten. Entsprechend reduziert war zu dieser Stunde sein Wortanteil, entsprechend leer sein Blick.

Überraschend koordiniert ergriff er allerdings in jenem historischen Augenblick die in der Tischmitte platzierten Blumen, führte sie ebenso zielsicher zum Mund und kaute emotionslos darauf herum. Ich glaube bis heute, er tat es nicht, um damit seinen spätpubertären Schulkameraden zu imponieren; vermutlich hielt er es in der konkreten Situation einfach für die richtige Entscheidung.

Auf unserem letzten Klassentreffen wurde diese mittlerweile fast ein Jahrzehnt alte Anekdote natürlich wieder hervorgekramt. Ein absoluter Klassiker! Es schien, als sei Carsten nie mit uns zur Schule gegangen, sondern nur für einen kurzen Moment an diesem Tisch aufgetaucht, um sich als passionierter Pflanzenfresser zu outen. Viele erinnerten sich nicht einmal mehr an seinen Namen, für sie war er nur "der Typ, der die Blumen fraß". Für alle Zeiten definiert über einen einzigen geistlosen Auftritt.

Ob Frank Mill gelegentlich nach dem achten Weinglas in den Garten schleicht und verschämt an den Orchideen knabbert, weiß ich nicht. Wohl aber, dass er heute nicht etwa als 17-facher Nationalspieler in Erinnerung ist, sondern vor allem als "der Typ, der am 9. August 1986 im Münchener Olympiastadion nicht das leere Tor, sondern nur den Pfosten traf". Weit über einhundert Treffer hat Frank Mill in eineinhalb Jahrzehnten Bundesliga erzielt, allerdings erzählt man sich bis heute bevorzugt die Geschichte von dem einen Tor, das er letztlich eben nicht machte. So auch an diesem Wochenende.

Roy Makaays spektakulärer Fehlschuss gegen den 1. FC Nürnberg wird ganz sicher in diversen Saisonrückblicken auftauchen, in ein paar Jahren wird sich hingegen kaum mehr jemand an seinen Fauxpas erinnern. Schlicht und ergreifend, weil Frank Mill diese Nische für alle Zeiten besetzt hält. Wo immer ein Stürmer das leere Tor kläglich verfehlt, sind die Begriffe "Mill" und "Pfosten" nicht weit. Ein 20 Jahre alter Schutzschild für jeden versagenden Angreifer, hinter dem schon Stefan Kohn, Ioan Viorel Ganea oder Naohiro Takahara Zuflucht suchten. Und jetzt eben auch Roy Makaay.

Als Bundesliga-Stürmer hatte man ohnehin nie einen schlechten Job, im August 1986 verlor er aber auch noch seinen letzten Haken. Ebenso war übrigens die Schulzeit an sich schon nicht allzu übel, die verbleibenden zwei Monate nach dem legendären Zwischenfall auf der dänischen Fähre jedoch fast paradiesisch. Man durfte sich fortan beinahe so dämlich benehmen, wie man wollte, ohne um seinen Ruf fürchten zu müssen. Zumindest, solange man im Suff keine Zierpflanzen aß...

(Christian Helms, sportal.de)

Montag, 21. August 2006

Freistuss Nr. 35: Kontakt am Ohr

Am Samstagabend stand ich zu fortgeschrittener Stunde in einer verhältnismäßig gut besuchten Bar, als mich ein bemerkenswert breitschultriger Kerl im Vorbeigehen anrempelte. Selbstverständlich war ich kurz versucht, mich fallen zu lassen. Mich wimmernd auf dem Boden zu winden und auf Nachfrage zu behaupten, es hätte mich böse am Ohr erwischt. Das gehört halt mittlerweile einfach dazu im professionellen Ausgehen.

Mehrere gute Argumente hielten mich schließlich davon ab: Zunächst war nicht damit zu rechnen, dass der vermeintliche Täter im Anschluss des Ladens verwiesen würde und ich somit für den Rest des Abends irgendeinen Vorteil hätte. Vielmehr hätten sämtliche Augenzeugen durch ihr schallendes Gelächter die Aufmerksamkeit auf dieses peinliche Schauspiel gelenkt; auf den armseligen Wicht, der unweit des Tresens in einer Getränke-Lache liegt und sich das Gesicht hält. Zudem gehe ich natürlich nicht professionell aus.

Wie Diego Klimowicz sich in diesem Augenblick verhalten hätte, darüber lässt sich lediglich spekulieren. Welchen Lösungsansatz er in einer vergleichbaren Situation auf dem Fußballplatz wählt, ist hingegen bekannt. "Dieses schnelle Umfallen und Provozieren ist generell ein Übel in der Bundesliga", bemühte sich nicht einmal mehr der eigene Trainer, die fragwürdige Einlage seines argentinischen Angreifers zu rechtfertigen. "In England wird man für so etwas gelyncht", analysierte Klaus Augenthaler.

Gerne wird in dieser beileibe nicht neuen Diskussion das Idealbild des moralisch überlegenen britischen Profis bemüht. So betonte Eintracht-Coach Friedhelm Funkel, Sotirios Kyrgiakos müsse "sich daran gewöhnen, dass er nicht mehr in Schottland spielt". Die verkommenen Manieren mancher Profis als zwar beklagenswertes, aber letztlich unabänderliches regionales Problem?

Der größte Unterschied zur Insel besteht doch darin, dass man sich hierzulande solch einen Unfug eben bieten lässt. Dass die Vereine oft genug nicht konsequent genug das unerwünschte Verhalten ihrer Angestellten ahnden. Dass der Anhang sich im Zweifel doch wieder hinter den eigenen Spieler stellt, anstatt in den nächsten Heimspielen erzieherischen Support zu leisten. Das sei übrigens ausdrücklich nicht als Aufruf zum Lynchmord verstanden, würde der Glaubwürdigkeit des deutschen Berufsfußballs jedoch helfen.

Der Glaubwürdigkeit, die ohnehin stark erschüttert wurde von jenem begabten Innenverteidiger, der sich zunächst ausgerechnet kurz vor einem Champions-League-Qualifikationsspiel so unglücklich verletzt hatte, dass er nicht auflaufen konnte, und noch am Freitag, wenige Stunden, bevor sein Wechsel zum englischen Champion FC Chelsea verkündet wurde, erklärte, dass er alles dafür geben werde, um wenigstens im Rückspiel dabei sein zu können. Seien Sie lieber vorsichtig, Herr Boulahrouz – es gibt Länder, da wird man für so etwas gelyncht…

(Christian Helms, sportal.de)

Montag, 14. August 2006

Freistuss Nr. 34: Einigkeit und Recht und Alltag

Vier Wochen lang war die Welt zu Gast bei Freunden. Sie bestaunte dabei ein begeisterungswilliges Volk, das das Geschehen auf dem Rasen kurzerhand zur Nebensache erklärte. Das seine Helden ausgelassen und friedlich feierte, obwohl diese die klare Vorgabe des Bundestrainers um zwei Plätze verfehlt hatten. Und das selbst ödestes Ballgeschiebe dank wiederholter "La Ola" und lauter "Lukas Podolski"-Sprechchöre noch in große Fußball-Partys verwandelte. Übrigens unabhängig davon, ob der Lukas nun gerade mitspielte oder nicht.

Die Welt ist natürlich längst weiter gezogen – zurück nach Kalifornien beispielsweise. Oder an die Themse. Geblieben sind die Erinnerungen an die schönen Bilder von den Fanmeilen sowie die Hoffnung, die berühmte "WM-Euphorie" lasse sich irgendwie in die 44. Spielzeit der Fußball-Bundesliga retten. Doch auch das Abspielen der Nationalhymne vor dem Saisonauftakt in der Allianz-Arena (vormals "FIFA WM-Stadion München") konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir wieder in der Normalität angekommen sind. Einigkeit und Recht und jede Menge Liga-Alltag.

Goleo hin, "Public Viewing" her – Fußball-Deutschland wurde spätestens mit dem Abpfiff am Freitagabend wieder in den Lieferzustand zurückversetzt. Der FC Bayern München scheint auch im 16:9-Format der Konkurrenz ein wenig voraus zu sein. Übrigens unabhängig davon, ob der Lukas nun mitspielte oder nicht.

Vom WM-Gefühl ist nur wenig geblieben: So bejubelte ein ganzes Stadion den verschossenen Elfmeter von Tim Borowski, um schließlich gar, als Miroslav Klose sechs Minuten vor dem Abpfiff zum entscheidenden 3:2 einschoss, gänzlich zu verstummen. Keine Spur mehr vom neuen deutschen Patriotismus!

Ein weiteres Indiz dafür, dass die Endrunde endgültig vorbei ist: Jürgen Klopp hat seine Fritz-Walter-Kluft wieder im Kleiderschrank verstaut. Auffällig entspannt kommentierte der FSV-Coach die Darbietung seiner Mannschaft auf der Pressekonferenz nach dem Spiel; vielleicht auch, weil er nicht mehr fürchten musste, dass ihm Johannes B. Kerner ins Wort fallen könnte. Oder plötzlich die Scheinwerfer aufleuchten und Spaßmacher Pelé in den Raum stürmt, um die Medienvertreter mit heißen Sambarhythmen zu verzaubern.

Sicher, nach gelungenen Spielszenen servierte uns das Fernsehen weiterhin Superstar Diego in diversen Nahaufnahmen. Mit dem Unterschied allerdings, dass dieser sich nicht mehr im Argentinien-Trikot an seiner kubanischen Zigarre erfreute, sondern im Werder-Shirt über den Platz trottete. Italiens Weltmeistercoach Marcello Lippi hat derweil die Rolle des ergrauten Vorzeige-Trainerfuchses wieder an Hans Meyer abgeben müssen.

Das Regime der Großbildleinwände und der Hitzerekorde musste weichen – für Oliver Welke und Nieselregen. Der Fußball schreitet mit riesigen Schritten dem Herbst entgegen und fühlt sich wieder genau so an wie vor der WM. Wer nach dem ersten Spieltag durch die Stadt spazierte, lief nicht mehr Gefahr, dass ihm Kleingruppen patriotischer Girlies die neuesten Hits von Olli Pocher oder den Sportfreunden Stiller ins Ohr brüllten. Keine Anhänger mehr, die bei der Auswahl ihrer Klamotten einzig überlegt haben, ob diese nun in erster Linie knapp oder schwarz-rot-gold sein sollten. Oder die "Sagnol" für ein neues Alkopop-Getränk halten.

Natürlich ist jeder, der sich für diesen wunderbaren Sport und seine spannenden Geschichten begeistern kann, herzlich willkommen. Es ist jedoch schön zu sehen, dass der Fußball auch ohne das FIFA-Logo noch funktioniert. Dass Menschen auch ohne Gesichtsbemalung feiern können, dass ihr Team sich mühevoll gegen Aufsteiger Cottbus durchgesetzt hat. Oder gemeinsam beklagen, dass ihre Elf unter dem Strich statt totaler Dominanz wieder nur totale Grütze geboten hat.

Schön, dass die Bundesliga wieder da ist.

(Christian Helms, sportal.de)

Dienstag, 23. Mai 2006

Freistuss Nr. 33: Sex oder Kopfballpendel?

Regelmäßig gerät die schreibende Zunft einige Wochen vor Turnierbeginn in Not. Das öffentliche Interesse am bevorstehenden Großereignis ist gewaltig, neue Geschichten ergeben sich zwischen der Bekanntgabe der WM-Kader und dem Anstoß des Eröffnungsspiels jedoch normalerweise kaum. Da die Extra-Seiten dennoch gefüllt werden wollen, erscheinen Portraits der Nominierten sowie lange, einfühlsame Interviews mit den Enttäuschten. Meist liebevoll garniert mit kontrastarmen Röntgenbildern der Angeschlagenen oder Medizinball-Impressionen der Fidelen.

Schließlich verliert ein gelangweilter Journalist auf einer dieser reichlich überflüssigen Pressekonferenzen im Trainingslager die Nerven und stellt die Gretchen-Frage: "Nun sag, mein Trainer, wie hat's die Mannschaft mit dem Sex?" Die Erkundung nach dem Beischlafverhalten der kasernierten Truppe ist ein absoluter WM-Klassiker, vermutlich stand diese Frage auch vor 76 Jahren in Montevideo schon im Notizblock des einen oder anderen Schreiberlings. Das Thema lässt sich nun mal gut verkaufen, ausnahmsweise sogar unabhängig von der Antwort des Coaches. Sobald das auflagensteigernde Wort mit den drei Buchstaben im Titel auftaucht, ist man auf der sicheren Seite – oder warum haben Sie diesen Artikel angeklickt?!?

Ecuadors Nationaltrainer Luis Fernando Suárez, so war gestern zu lesen, fordere seine Kicker in den letzten beiden Wochen vor der Weltmeisterschaft zur Enthaltsamkeit auf. Man müsse ein Gleichgewicht schaffen zwischen Freizeit, in der seine Schützlinge ausgehen könnten, und einer Phase, in der sie sich voll auf das Trainingslager konzentrieren müssten, zitierte ihn eine ecuadorianische Lokalzeitung. Deren Extra-Seiten wollen schließlich auch gefüllt werden.

Damit schlägt Suárez eine gänzlich andere Linie ein als sein Amtsvorgänger Hernan Dario Gomez. "Wenn man es langsam macht – und mit einer Menge Liebe – kann es ein Fußballspieler jeden Tag tun", hatte der vor vier Jahren bei der recht erfolglosen WM-Premiere seines Landes erklärt. Brasiliens Coach Carlos Alberto Parreira verzichtet sogar auf jegliche Einschränkung hinsichtlich der Dynamik oder der Emotion. "Sex ist immer gut und immer willkommen. Ein Problem wäre, wenn meine Spieler rauchen und trinken oder nicht essen und schlafen. Aber Sex am Tag vor dem Spiel ist nichts Schlechtes."

Vor einem halben Jahrhundert hatte Bundestrainer Sepp Herberger noch die Empfehlung ausgegeben, "sexuelle Bedürfnisse" ließen sich am besten durch eine Zusatzeinheit intensiven Kopfballtrainings abbauen. Wenn also Helmut Rahn zu später Stunde aus lüsternen Träumen erwachte, wartete in der menschenleeren Sporthalle nicht nur der "Geist von Spiez" auf ihn – sondern auch das Kopfballpendel. Und am Ende stand der Titel.

Unzählige wissenschaftliche Untersuchungen gibt es mittlerweile zu diesem Thema, freilich mit den unterschiedlichsten Ergebnissen. Alles also nur eine Glaubensfrage?

Wenn die Empirie versagt, hilft der Terrier! Dessen Versuchsanordnung lieferte nämlich aufschlussreiche Ergebnisse. Outete sich Berti Vogts 1994 noch als Suárez-Hardliner, gab er sich vier Jahre später in Frankreich bemerkenswert liberal. "Sex vor einem Spiel? Das können meine Jungs halten, wie sie wollen. Nur in der Halbzeit, da geht nichts", hieß es damals unter großem Gelächter. Gebracht hat der Meinungsumschwung bekanntermaßen herzlich wenig. Erneut kam das Aus im Viertelfinale, erneut gegen ein osteuropäisches Team.

Wenn Ecuador also trotz neuer Trieb-Taktik die Vorrunde des Turniers wieder nicht überstehen sollte, müsste doch eigentlich auch der letzte Zweifler überzeugt sein, dass der Einfluss des Teammanagers Eros lange überschätzt wurde. Dass es im Grunde völlig egal ist, was beispielsweise der Italiener während der Endrunde mit seiner Nudel macht. Wahrscheinlicher ist aber, dass in exakt vier Jahren wieder Meldungen dieser Art über die Ticker laufen. Die vielen WM-Seiten wollen schließlich gefüllt werden.

(Christian Helms, sportal.de)

Montag, 15. Mai 2006

Freistuss Nr. 32: Männer weinen nicht!

In diesem Jahrtausend haben mich genau zwei Ereignisse zum Weinen gebracht. Dabei wird den meisten Jungen doch bereits in frühester Kindheit vermittelt, dass der einzig akzeptable Wert pro Millennium deutlich darunter liegen müsse. Die Null muss stehen! Männer weinen nicht! Ein hinterhältiges Staubkorn unter der Kontaktlinse oder böse Zahnschmerzen seien ausdrücklich ausgenommen, einzig emotional bedingter Tränenfluss geht in diese sehr persönliche Statistik ein.

Vor vier Jahren teilte mir meine langjährige Freundin mit, sie lege künftig keinen Wert mehr auf unsere Partnerschaft - umso mehr allerdings auf einen anderen Kerl. Nein, da konnte ich wirklich nicht mehr anders. Der zweite Anlass kommt vergleichsweise bescheiden daher: Ich habe am Samstag ein paar Tränen verdrückt, weil mein Verein die direkte Qualifikation für die Champions League verpasst hat. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.

Man rechnet ja mit vielem vor einem solchen Endspiel. Dass Ailton nicht seinen besten Tag erwischt. Dass der überragende Miroslav Klose irgendwann richtig steht und das Siegtor erzielt. Dass die Bremer Spieler sich dann vor der Gästeecke genüsslich von ihrem Anhang feiern lassen. Ein unerträgliches Freudenfest in Grün und Weiß. Man malt sich solche Bilder bis ins kleinste Detail aus, damit sie später weniger schmerzen. Aber dass es einen so sehr berührt, wie die enttäuschten Hamburger sich nach dem Abpfiff beim Publikum für die Unterstützung bedanken? Dass man mit feuchten Augen in der AOL-Arena steht, weil der Hamburger SV "nur" Dritter ist?

Erst ein einziges Mal überhaupt hatte ich wegen eines Fußballspiels geweint. Im Sommer 1986 hatte mich der Spielverlauf des WM-Finales komplett überfordert, Jorge Burruchagas Lauf zum späten Siegtreffer hatte ich mit gerade acht Jahren einzig kindliches Geflenne entgegenzusetzen. Ich dachte eigentlich, für so etwas sei ich mittlerweile zu alt. Einerseits ist es ja ganz schön zu wissen, dass dieses simple Spiel mich auch 20 Jahre danach noch auf der Gefühlsebene anspricht. Andererseits frage ich mich, was wohl als nächstes kommen wird.

Heule ich los, wenn Jens Nowotny nachher als Mitglied des deutschen WM-Kaders vorgestellt wird? Wenn das Eröffnungsspiel gegen Costa Rica torlos bleibt? Wenn die Espresso-Dose leer ist, obwohl ich mich doch den ganzen Tag darauf gefreut habe? Wenn die Heizkostenabrechnung kommt? Wenn ein halbwegs sympathischer Kandidat bei "Wer wird Millionär?" an der 16.000-Euro-Frage scheitert?!?

Nein, ich reiße mich natürlich zusammen, wie mir das als Knabe wieder und wieder eingebläut wurde. Was sollen denn beispielsweise die Menschen aus Kaiserslautern sagen, die demnächst am Montagabend auf den Betzenberg klettern müssen? Ganz zu schweigen natürlich von jenen, die ernsthafte Probleme haben.

(Christian Helms, sportal.de)

Montag, 8. Mai 2006

Freistuss Nr. 31: Eine Woche Lebensqualität

Warum es außerordentlich wichtig war, den Titel bereits am vorletzten Spieltag einzufahren, erklärte Uli Hoeneß noch am Sonnabend mit dem standesgemäßen Weißbierglas in der Hand. "Wir haben eine Woche Lebensqualität gewonnen und haben nun nicht mehr diese Anspannung. Wenn man die Titel eingefahren hat, kann man auch die Sau rauslassen und die Schleusen öffnen."

Das Wort des Bayern-Managers hat Gewicht. Schon im Mannschaftsbus zwischen Kaiserslautern und Köln trank sich der sonst so reservierte Modell-Asket Felix Magath ("Ich hatte mehr als einen zu viel.") pflichtbewusst aus dem Verkehr, noch bevor die bajuwarische Karawane auf den bestellten Rheindampfer weiterzog. Der Sultan hatte ganz offensichtlich Durst. Viva Bavaria!

Nun, da wir einen Eindruck davon haben, was man in München unter gewonnener Lebensqualität versteht, sollte man anmerken, dass es in dieser Rechnung natürlich auch einen Verlierer gibt – den Fußball-Fan. Dem nämlich wird durch die vorzeitige Entscheidung ein Stück Lebensqualität genommen. Das Titelrennen kommt abermals ohne das akribische Durchrechnen aller möglichen Tabellenkonstellationen aus. Ohne das gebannte Starren auf den Videotext, dessen etwas moderneren Bruder, den Live-Ticker, oder die Anzeigetafel im Stadion. Ohne Herzschlagfinale um die Schale.

Hätte sich darüber hinaus der Hamburger SV im Berliner Olympiastadion durchgesetzt – gegen nur zehn Hertha-Spieler war das ja durchaus möglich – und zeitgleich der VfL Wolfsburg in Stuttgart gesiegt – gegen egal-wie-viele VfB-Akteure ist das grundsätzlich möglich –, wäre der letzte Spieltag gar gänzlich ohne emotionsgeladene Entscheidung ausgekommen. Statt der großen UI-Cup-Konferenz beiwohnen zu müssen, wobei man vorzüglich darüber diskutieren kann, ob dessen Erreichen nun ein Mehr oder ein Weniger an Lebensqualität für Profis und Zuschauer darstellt, entschädigen uns am letzten Spieltag zwei echte Finalspiele. Das Nord-Derby um den direkten Champions-League-Einzug kann dabei jedoch nicht annähernd mit dem Abstiegsendspiel in Wolfsburg konkurrieren, bekommt der Verlierer der Begegnung in der AOL-Arena doch noch eine zweite Chance.

Anders im Tabellenkeller: Gewinnt der 1. FC Kaiserslautern nicht, steigt er ab und ist definitiv "Germany's next Zweitligist". Gewinnt er, trifft es Wolfsburg. (Ein Format, dass einfacher und brutaler kaum sein könnte, und somit auch wunderbar ins Abendprogramm eines jeden Privatsenders passen würde. Dort allerdings träten die Kombattanten nach Spielende noch vor eine Fachjury, ehe das Fernsehpublikum per Telefonabstimmung darüber befände, wer im Fußball-Oberhaus bleiben darf.)

Eineinhalb Stunden Nahkampf, bevor schließlich ein Verein "die Schleusen öffnen" darf. Aufregender kann ein Saison-Finale doch im Grunde kaum sein. Wen interessiert da noch, wie viel "Lebensqualität" Felix Magath und Co. in sich hineinschütten können?

(Christian Helms, sportal.de)

Montag, 1. Mai 2006

Freistuss Nr. 30: Ja, ist denn heut schon Weihnachten?

Es gibt Szenen des Jubels, die man auch nach Jahren noch sehr deutlich vor Augen hat. Ich erinnere mich beispielsweise ausgezeichnet an Jürgen Klinsmann, der auf der Tribüne des Wembley-Stadions den EM-Pokal mit beiden Armen in die Höhe reckt, während hinter ihm die Queen in ihrem mintgrünen Sommer-Outfit leicht verlegen königlichen Beifall spendet. Oder an Otto Rehhagel, der acht Jahre später mit einer riesigen Akkreditierungskarte vor der Brust in Lissabon mit seinen Griechen eines der größten Fußball-Wunder aller Zeiten bejubelt.

Als am späten Samstagabend die Spieler des FC Bayern München ihren x-ten nationalen Titel feierten, war mir hingegen recht schnell klar, dass diese Bilder in meiner Erinnerung keinen Ehrenplatz einnehmen werden. Zu regelmäßig hat man in den letzten Jahren die Spieler in den rot-weißen Trikots auf dem Podest gesehen; zu oft freuten sich Oliver Kahn und seine Kollegen im dichten Konfettitreiben, als dass man die einzelnen Anlässe noch trennen könnte.

Die wiederkehrenden Feierlichkeiten der Münchener erinnern mich dabei auf seltsame Weise an meine Weihnachtsfeste im Kreise der Familie; auch die sind ob ihres rituellen Charakters in der Rückschau längst zu einem einzigen verschmolzen. Mehr Gefühl als Tatsache. So zuverlässig wiederholen sich Jahr für Jahr die Geschehnisse.

Etwa 90 Minuten lang werden zunächst sämtliche Klassiker der Weihnachtsgeschichte durch die restlos ausverkaufte Kirche gegrölt, später versammelt sich die ganze Sippschaft am festlich gedeckten Tisch. Schließlich nimmt der Bayern-Kapitän seine Geschenke entgegen, täuscht gekonnt vor, die elfte Krawatte seiner Karriere bedeute ihm noch genauso viel wie die erste, und der übermütige Hasan Salihamidzic überschüttet meine Mutter mit Weißbier. Schöne Bescherung!

Zu vorgerückter Stunde, wenn ausreichend Rotwein konsumiert wurde, verliert mein Vater, die unangreifbare Lichtgestalt des Hauses, beim gemütlichen Kartenspiel die Contenance und die feierliche Stimmung kippt. "So wie Du im Moment spielst, bist Du nicht der große Gewinn. Du bemühst Dich überhaupt nicht mehr. Du schonst Dich wohl schon für den ersten Feiertag!" In dieser betretenen Stimmung geht es letztlich ins Bett und alle wissen: Im nächsten Jahr wird nichts anderes passieren – und trotzdem freut man sich schon darauf. So ist Fußball…

(Christian Helms, sportal.de)

Montag, 24. April 2006

Freistuss Nr. 29: Nie Deutscher Meister!

Im Nieselregen vor der AOL-Arena war es am frühen Samstagabend beklemmend still. Die Tatsache, dass der Hamburger SV gerade durch ein 0:2 gegen Bayer Leverkusen seine wahrscheinlich letzte Chance auf den Titel verspielt hatte, mussten die meisten Anhänger erst einmal mühsam verdauen. Wortlos wurde zwischen Matsch und Sichtbeton den vielen vergebenen Möglichkeiten nachgetrauert, begleitet von der mulmigen Vorahnung, dass nun auch der FC Bayern nicht am Mainzer Bruchweg gewinnen und die Niederlage somit umso mehr schmerzen würde.

Demütigender als die Treffer von Simon Rolfes und Paul Freier war jedoch der Auftritt eines euphorischen Gäste-Fans. Er trug ein hellblaues Bayer-Trikot mit dem Aufdruck "Ramelow", reckte seinen rot-schwarzen Schal in den in jeder Hinsicht dunkelgrauen Himmel über Hamburg und brüllte mit heiserer Stimme: "Nie Deutscher Meister, Ihr werdet nie Deutscher Meister. Nieee Deutscher Meister!" Aus dem Mund eines Leverkuseners, wohlgemerkt.

Muss man sich denn wirklich alles gefallen lassen? Wird mir demnächst ein Anhänger von Borussia Dortmund erzählen, mein Verein könne nicht mit Geld umgehen? Oder ein Stuttgarter, dass mein Club in dieser Saison überwiegend unansehnlichen Alibi-Fußball geboten habe? Oder wird mir ein halbstarker Wolfsburger ins Gesicht schreien, meinem Verein mangele es an Tradition? (Das übrigens sind die anderen drei Mannschaften, die in der Spielzeit 2005/06 in der AOL-Arena siegten. Zu viele für den Titel.)

Der HSV wird letztlich höchstens die Vizemeisterschaft feiern; das hat der junge Ramelow-Sympathisant ganz richtig erkannt. Am Ende einer herausragenden Saison gänzlich ohne Trophäe dazustehen, das haben jedoch schon ganz andere Mannschaften geschafft. Selbst der vielfache Champion Bayer Leverkusen.

(Christian Helms, sportal.de)

Montag, 17. April 2006

Freistuss Nr. 28: Das geplatzte Auge

Am Samstagnachmittag wird so manchem Premiere-Abonnenten vor Schreck das Kaltgetränk aus der Hand gefallen sein.

"Wegen seines geplatzten Auges" werde Oliver Kahn nicht im Tor des FC Bayern München stehen, hatte Moderator Patrick Wasserziehr gerade bemerkenswert gelassen verkündet. So ruhig, als handle es sich bei dieser Verletzung um ein weit verbreitetes Fußballerleiden, als müssten Woche für Woche Dutzende von Profis nicht nur wegen ihrer Muskelbündelrisse, ihrer Adduktorenzerrungen oder ihrer geschundenen Syndesmosebänder pausieren, sondern auch aufgrund ihrer geplatzten Augen.

Zumindest die Nichtmediziner werden sich noch kurz gefragt haben, ob so ein Auge denn überhaupt jemals wieder nachwachse. Ob Zweiäugigkeit nicht eine notwendige Bedingung für räumliches Sehen sei, eine Fähigkeit, die gerade für einen Berufstorwart nicht uninteressant ist. Und ob sich diese unerfreuliche Augenplatzgeschichte nicht einen Monat früher hätte ereignen können, so dass uns das ganze Theater um den Platz im Gehäuse der Nationalelf erspart geblieben wäre.

Schließlich zeigte der Pay-TV-Sender, wie der Münchener Schlussmann während der Spielvorbereitung in der Allianz-Arena von einem Schuss seines Stellvertreters Michael Rensing niedergestreckt worden war. Ein sauberer Kopftreffer, doch nicht etwa das rechte Auge des Torwarts platzte dabei wie von Dr. Wasserziehr vorschnell diagnostiziert, sondern lediglich ein Blutgefäß unmittelbar darunter. In Sekundenschnelle sah der Keeper aus wie einer der Klitschko-Brüder nach sechs bis acht Runden im Ring – und war um seinen 496. Bundesliga-Einsatz gebracht.

Seltsam vergnügt sah man Oliver Kahn anschließend auf der Tribüne seine rechte Gesichtshälfte kühlen. Es schien fast so, als sei ihm just an diesem Nachmittag bewusst geworden, dass ein einziger wohl platzierter Ball einer Nummer zwei manchmal weit mehr von Nutzen sein kann als monatelange Lobbyarbeit. An Jens Lehmanns Stelle würde ich mich im Juni jedenfalls ausschließlich von Andreas Köpke warmschießen lassen…

(Christian Helms, sportal.de)

Montag, 10. April 2006

Freistuss Nr. 27: Wer ist Jens Lehmann?!?

Es gibt tatsächlich Menschen, denen es gelingt, das Thema Fußball komplett zu ignorieren. Die dieses wunderbare Spiel mit all seinen dramatischen Geschichten so gähnend langweilig finden, dass sie den Sportteil einer Tageszeitung nicht nur ungelesen, sondern sogar unberührt in den Papierkorb gleiten lassen. Die augenblicklich zur Fernbedienung greifen, sobald der Ball über den Schirm holpert oder Franz Beckenbauer ins Bild kommt. Menschen, die selbst während eines Weltturniers im eigenen Lande immun sind gegen die ansteckende Massenerkrankung Fußball-Fieber.

Eine gute Freundin von mir gehört zu dieser wundersamen Spezies. Sie hat, so denke ich zumindest, nicht die leiseste Ahnung, ob der FC Bayern München noch in der Champions League vertreten ist oder wer in zwei Monaten die Gruppengegner der deutschen Nationalelf sein werden. Ich bin mir auch sehr sicher, dass sie bis vor drei Tagen nicht wusste, wer Jens Lehmann ist – und es war zweifelsohne ihr gutes Recht, sich nicht für deutsche Torhüter zu interessieren. Am Freitag jedoch hat man ihr diese Entscheidungsfreiheit genommen.

Auch die seriösesten Nachrichtensendungen ließen es sich nicht nehmen, am Abend die beantwortete T-Frage zum Top-Thema zu machen, kaum ein Blatt hievte am Folgetag nicht den "maßlos enttäuschten" Titanen oder dessen grinsendes Pendant auf die Titelseite. Ausweichen unmöglich! Ungefragt wird jeder Bürger am Schicksal der DFB-Elf beteiligt, schon weit vor dem Beginn des Turniers mutieren schlichte Sportnachrichten – denn nichts anderes ist die Ankündigung des Bundestrainers, einen Spieler einem anderen vorzuziehen – zu umwerfenden Sensationen, anstatt wie gewohnt im Sportblock abgehandelt zu werden.

Dort, wo all die anderen, mindestens ebenso spannenden Fragen erörtert werden. Zum Beispiel die M-Frage (Wird es im Kampf um die Meisterschaft doch noch einmal eng?), die W-Frage (Kann sich der VfL Wolfsburg trotz aller Versuche, seine bedrohliche Lage zu ignorieren, noch am 1. FC Kaiserslautern vorbei in die Zweite Bundesliga mogeln?) oder die P-Frage (Wer darf in knapp drei Wochen in Berlin um den Pokalsieg kämpfen?) – all jene Fragen halt, die einigen Menschen völlig egal sind.

(Christian Helms, sportal.de)

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