Freistuss Nr. 35: Kontakt am Ohr

Am Samstagabend stand ich zu fortgeschrittener Stunde in einer verhältnismäßig gut besuchten Bar, als mich ein bemerkenswert breitschultriger Kerl im Vorbeigehen anrempelte. Selbstverständlich war ich kurz versucht, mich fallen zu lassen. Mich wimmernd auf dem Boden zu winden und auf Nachfrage zu behaupten, es hätte mich böse am Ohr erwischt. Das gehört halt mittlerweile einfach dazu im professionellen Ausgehen.

Mehrere gute Argumente hielten mich schließlich davon ab: Zunächst war nicht damit zu rechnen, dass der vermeintliche Täter im Anschluss des Ladens verwiesen würde und ich somit für den Rest des Abends irgendeinen Vorteil hätte. Vielmehr hätten sämtliche Augenzeugen durch ihr schallendes Gelächter die Aufmerksamkeit auf dieses peinliche Schauspiel gelenkt; auf den armseligen Wicht, der unweit des Tresens in einer Getränke-Lache liegt und sich das Gesicht hält. Zudem gehe ich natürlich nicht professionell aus.

Wie Diego Klimowicz sich in diesem Augenblick verhalten hätte, darüber lässt sich lediglich spekulieren. Welchen Lösungsansatz er in einer vergleichbaren Situation auf dem Fußballplatz wählt, ist hingegen bekannt. "Dieses schnelle Umfallen und Provozieren ist generell ein Übel in der Bundesliga", bemühte sich nicht einmal mehr der eigene Trainer, die fragwürdige Einlage seines argentinischen Angreifers zu rechtfertigen. "In England wird man für so etwas gelyncht", analysierte Klaus Augenthaler.

Gerne wird in dieser beileibe nicht neuen Diskussion das Idealbild des moralisch überlegenen britischen Profis bemüht. So betonte Eintracht-Coach Friedhelm Funkel, Sotirios Kyrgiakos müsse "sich daran gewöhnen, dass er nicht mehr in Schottland spielt". Die verkommenen Manieren mancher Profis als zwar beklagenswertes, aber letztlich unabänderliches regionales Problem?

Der größte Unterschied zur Insel besteht doch darin, dass man sich hierzulande solch einen Unfug eben bieten lässt. Dass die Vereine oft genug nicht konsequent genug das unerwünschte Verhalten ihrer Angestellten ahnden. Dass der Anhang sich im Zweifel doch wieder hinter den eigenen Spieler stellt, anstatt in den nächsten Heimspielen erzieherischen Support zu leisten. Das sei übrigens ausdrücklich nicht als Aufruf zum Lynchmord verstanden, würde der Glaubwürdigkeit des deutschen Berufsfußballs jedoch helfen.

Der Glaubwürdigkeit, die ohnehin stark erschüttert wurde von jenem begabten Innenverteidiger, der sich zunächst ausgerechnet kurz vor einem Champions-League-Qualifikationsspiel so unglücklich verletzt hatte, dass er nicht auflaufen konnte, und noch am Freitag, wenige Stunden, bevor sein Wechsel zum englischen Champion FC Chelsea verkündet wurde, erklärte, dass er alles dafür geben werde, um wenigstens im Rückspiel dabei sein zu können. Seien Sie lieber vorsichtig, Herr Boulahrouz – es gibt Länder, da wird man für so etwas gelyncht…

(Christian Helms, sportal.de)

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