Freistuss Nr. 30: Ja, ist denn heut schon Weihnachten?

Es gibt Szenen des Jubels, die man auch nach Jahren noch sehr deutlich vor Augen hat. Ich erinnere mich beispielsweise ausgezeichnet an Jürgen Klinsmann, der auf der Tribüne des Wembley-Stadions den EM-Pokal mit beiden Armen in die Höhe reckt, während hinter ihm die Queen in ihrem mintgrünen Sommer-Outfit leicht verlegen königlichen Beifall spendet. Oder an Otto Rehhagel, der acht Jahre später mit einer riesigen Akkreditierungskarte vor der Brust in Lissabon mit seinen Griechen eines der größten Fußball-Wunder aller Zeiten bejubelt.

Als am späten Samstagabend die Spieler des FC Bayern München ihren x-ten nationalen Titel feierten, war mir hingegen recht schnell klar, dass diese Bilder in meiner Erinnerung keinen Ehrenplatz einnehmen werden. Zu regelmäßig hat man in den letzten Jahren die Spieler in den rot-weißen Trikots auf dem Podest gesehen; zu oft freuten sich Oliver Kahn und seine Kollegen im dichten Konfettitreiben, als dass man die einzelnen Anlässe noch trennen könnte.

Die wiederkehrenden Feierlichkeiten der Münchener erinnern mich dabei auf seltsame Weise an meine Weihnachtsfeste im Kreise der Familie; auch die sind ob ihres rituellen Charakters in der Rückschau längst zu einem einzigen verschmolzen. Mehr Gefühl als Tatsache. So zuverlässig wiederholen sich Jahr für Jahr die Geschehnisse.

Etwa 90 Minuten lang werden zunächst sämtliche Klassiker der Weihnachtsgeschichte durch die restlos ausverkaufte Kirche gegrölt, später versammelt sich die ganze Sippschaft am festlich gedeckten Tisch. Schließlich nimmt der Bayern-Kapitän seine Geschenke entgegen, täuscht gekonnt vor, die elfte Krawatte seiner Karriere bedeute ihm noch genauso viel wie die erste, und der übermütige Hasan Salihamidzic überschüttet meine Mutter mit Weißbier. Schöne Bescherung!

Zu vorgerückter Stunde, wenn ausreichend Rotwein konsumiert wurde, verliert mein Vater, die unangreifbare Lichtgestalt des Hauses, beim gemütlichen Kartenspiel die Contenance und die feierliche Stimmung kippt. "So wie Du im Moment spielst, bist Du nicht der große Gewinn. Du bemühst Dich überhaupt nicht mehr. Du schonst Dich wohl schon für den ersten Feiertag!" In dieser betretenen Stimmung geht es letztlich ins Bett und alle wissen: Im nächsten Jahr wird nichts anderes passieren – und trotzdem freut man sich schon darauf. So ist Fußball…

(Christian Helms, sportal.de)

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