Freistuss Nr. 23: Berliner Momentaufnahme

Wenn man seinen Lebensunterhalt damit verdient, Fußballspiele anzuschauen, wird eines leider immer seltener: Momente, in denen man dieses Spiel so erlebt, wie man es nach wie vor am liebsten tut. Ohne jede berufliche Aufgabenstellung – dafür mit einem kühlen Bier in der Hand. Kein angestrengtes Suchen nach der Schlüsselszene oder netten Randgeschichten lenkt vom Fernsehschirm ab, statt eines Notizblocks wird höchstens die Fernbedienung umklammert.

Dafür zahlt allerdings auch niemand ein entschädigendes Honorar, wenn die Akteure auf dem Fernsehschirm sich wahrlich bemühen, einem den Abend zu verleiden. Zuletzt geschehen am vergangenen Mittwoch, als Hertha BSC und Rapid Bukarest mir rasch klar machten, dass ich während dieses Spiels keinen Gedanken an ein zweites Bier verschwenden würde. Selbst im Vollrausch wäre dieses Kräftemessen noch ähnlich dröge gewesen wie der obligatorische Analyseplausch zwischen Thomas Helmer und Berti Vogts. Dauerregen, wie so oft, wenn die Berliner die kleine europäische Nebenbühne betreten. Dazu gespenstische Stille in einer spärlich besuchten Betonschüssel. Erst die DSF-Grafik überzeugt mich davon, dass die Partie gar nicht in Rumänien stattfindet. 0:1. Trostloser kann ein Kick kaum mehr sein.

Schnell ist klar: Gewinnt die kränkelnde alte Dame auch am Samstag nicht gegen den FC Schalke 04 – was ja durchaus einmal vorkommen kann –, wird Udo Lattek am Sonntagvormittag wieder von "fehlenden Hierarchien" faseln und die Gazetten am Montag werden überquillen vor Geschichten, dass das Ein-Mann-Unternehmen "Hoeneß BSC" endgültig abgewirtschaftet habe. Dabei weist die Tabelle den Hauptstadt-Club doch noch immer als sechstbestes Team aus. Sicher, das Spitzenquartett ist den Berlinern nach zehn sieglosen Partien endgültig entfleucht, der fünfte Rang und damit die verlockende Aussicht auf neuerliche Europapokalfeste in Göteborg oder Bukarest ist jedoch noch immer in Reichweite.

"Das ist eine Momentaufnahme, mehr nicht", so Falko Götz. Nicht etwa am Samstag, sondern vor ziemlich genau einem Jahr, als Hertha BSC elf Mal in Folge ohne Niederlage blieb und den Vereinsrekord einstellte. Marcelinho hatte in jenen Tagen gerade seine Begeisterung für Haarfärbemittel entdeckt, entschied damals aber die Spiele derart regelmäßig durch geniale Aktionen zu Gunsten seiner Elf, dass die
Verantwortlichen sich einzig sorgten, dass der Brasilianer sein Vermögen in der Heimat allzu gutgläubig "verwalten" lassen könnte. Götz ahnte, es würde nicht immer so rund laufen.

Eine Momentaufnahme, wie jetzt auch. Hätte Arne Friedrich vor eineinhalb Wochen gegen den Tabellenführer eine seiner hochkarätigen Möglichkeiten genutzt, wären die Berliner anschließend republikweit als "Bayern-Killer" gefeiert worden, man hätte wahrscheinlich von den jungen Wilden, den Chaheds und Boatengs, geschwärmt. Das Potenzial ist zweifelsohne vorhanden; von der Meisterschale ist man zwar momentan weit entfernt – was übrigens für gleich 17 Vereine der Bundesliga gilt –, mit
dem Abstieg, den die ersten Apokalypse-Schreiber in Anspielung auf den "Horror-Herbst 2003" an die Wand des Olympiastadions malen, wird man indes auch nichts zu tun haben.

Es ist wirklich zu wünschen, dass die Verantwortlichen in Berlin jetzt nicht die Nerven verlieren und diesbezüglich dem VfB Stuttgart nacheifern. Falko Götz ist einer der wenigen Trainer, die sich hundertprozentig mit ihrem Verein identifizieren. Das Geld für seine Abfindung könnte man zumindest deutlich besser anlegen – vielleicht
verpflichten die Berliner ja im Sommer endlich einmal einen torgefährlichen Angreifer.

Das Rückspiel in Bukarest (Donnerstag, 16:15 Uhr) werde ich mir übrigens nicht mehr anschauen – zum Glück bin ich dann schon im Urlaub…

(Christian Helms, sportal.de)

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