Freistuss Nr. 15: Das New Orleans der Pfalz

Hemmungslos freut sich der Fußballfan über den torhungrigen Marokkaner, der seine beiden Mitspieler "übersieht", mit einem Schuss ans Außennetz den möglichen Sieg verschenkt und nun einen Aufsatz zum Thema "Altruismus und Sozialkompetenz" bei Uwe Rapolder abliefern darf. Auch der geistesabwesende Argentinier, der Miroslav Klose mit dem eigenen Schlussmann verwechselt und mit seinem präzisen Zuspiel das sechste Gegentor der Wölfe einleitet, sorgt für Erheiterung. Sogar der unglückliche Mazedonier, der seinen Keeper in nur 129 Sekunden gleich zwei Mal düpiert, zaubert zumindest dem Nicht-Mainzer ein verschämtes Lächeln ins Gesicht.

Sich am Unglück anderer zu erfreuen, wird oft als unanständig beschrieben, doch dürfte diese Schadenfreude einer der entscheidenden Gründe sein, warum wir überhaupt die Geschehnisse der 17 anderen Vereine so leidenschaftlich verfolgen. Spektakuläre Tore oder Spielzüge möchte natürlich auch niemand verpassen; wenn es allerdings darum geht, den Arbeitskollegen oder Nachbarn mit dem Scheitern seines Lieblingsclubs aufzuziehen, helfen die drei patzenden Nationalspieler aus dem ersten Absatz jedoch viel eher.

Was im Kleinen noch so wunderbar funktioniert, versagt im Großen: Übersteigt das Ausmaß der sportlichen Katastrophe die Grenzen des Vorstellbaren, verabschiedet sich der Mensch instinktiv von allen Gedanken an Spott und Häme und flüchtet in betretenes Schweigen. Ernsthaft mitleidig blicken wir in diesen Tagen nach Kaiserslautern, dem New Orleans der Pfalz – trotz seiner exponierten Lage ganz oben auf dem Betzenberg ist das Fritz-Walter-Stadion am Samstag endgültig voll gelaufen.

Der FCK sei spätestens mit dem 1:3 gegen den 1. FC Nürnberg "sportlich gestrandet" erklärte René C. Jäggi, der hoffnungslose Leiter des Lauterer Krisenstabs, entließ den Trainer aus seinem Amt und trat nur Minuten später selbst zurück. Es hätte auch nicht mehr überrascht, wenn der Schweizer im gleichen Atemzug Halil Altintop verscherbelt, den verstorbenen Fritz Walter einen weinerlichen Taugenichts genannt und Insolvenz angemeldet hätte – das Chaos in Kaiserslautern ist längst nicht mehr fassbar. Im Katastrophengebiet helfen jetzt nur noch fähige und bezahlbare Spieler, ein unerschrockener Trainer, ein sportliches Konzept und eine neue Vereinsführung, der wirklich am Wohl des Clubs gelegen ist.

Zwischen Schlamm und Trümmern toben jedoch bereits die ersten Machtkämpfe um die vakanten Positionen. Die einzig gute Nachricht: Um Plünderer braucht man sich in der Pfalz wirklich keine Sorgen zu machen, die waren nämlich schon vor Jahren da.

(Christian Helms, sportal.de)

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