Freistuss Nr. 9: Löwenzahm

Nicht nur in der entscheidenden Phase der WM-Qualifikation bleiben Kameras und Mikrofone bevorzugt bei den Gewinnern. Wieder und wieder wurden am Wochenende die Namen jener Mannschaften aufgezählt, die im kommenden Jahr in deutschen Stadien ihr Können demonstrieren dürfen.

Zwischen all den Bildern jubelnder Sportler blieb nur wenig Platz für jene, denen der Fußballgott das begehrte Ticket im allerletzten Moment noch aus den Fingern riss. Dabei schrieb Afrikas Qualifikationsgruppe 3 am Samstagnachmittag ein Lehrstück, zu welch brutaler Tragik dieses simple Spiel doch taugt.

Tatort Yaoundé: Nach dem vermeintlich schon entscheidenden Erfolg beim direkten Konkurrenten von der Elfenbeinküste wähnen die "Unzähmbaren Löwen" aus Kamerun sich bereits am Ziel, gegen die vorzeitig ausgeschiedenen Ägypter soll vor heimischer Kulisse die fünfte WM-Teilnahme in Folge perfekt gemacht werden. Früh gelingt der Heimelf die Führung, die große Qualifikationsparty in Grün, Rot und Gelb kann beginnen.

Als jedoch zehn Minuten vor dem Abpfiff Mohamed Shawky zum überraschenden 1:1-Ausgleich für die "Pharaonen" trifft, rückt der Traum plötzlich wieder in weite Ferne. Hektisch wirft Kamerun noch einmal alles nach vorne und wird tatsächlich in der vierten Minute der Nachspielzeit mit einem – recht zweifelhaften – Strafstoß belohnt. Ohrenbetäubender Lärm im restlos ausverkauften Rund. Der oft so komplizierte Modus der monatelangen WM-Qualifikation wird vorübergehend reduziert auf einen einzigen Schuss, der darüber entscheiden soll, ob Kamerun zur Endrunde fährt oder eben nicht.

Pierre Womé, Linksverteidiger in Diensten Inter Mailands, legt sich den Ball zurecht. Ein ganzes Land zittert mit, zur Eruption bereit – und muss mit ansehen wie das Leder an den rechten Außenpfosten klatscht. Die Partie ist aus und alle Löwen liegen gezähmt auf dem sandigen Platz.

Doch während im Fernsehen nach kurzer Verabschiedung ("Schade für Kamerun, doch freuen uns auf die Elfenbeinküste. Machen Sie's gut.") der Vorhang für dieses gewaltige Trauerspiel längst gefallen ist, einfach zum nächsten Schauplatz übergeblendet wurde, geht das Leben in Yaoundé natürlich weiter. Katerstimmung in den Wohnhäusern, Kneipen und Straßen, noch bevor das Fest überhaupt begonnen hat. Natürlich auch in der Kabine Kameruns, in der die tragische Figur des Abends mit Sicherheit auch durch den Zuspruch seiner Kameraden nicht zu trösten war.

Vor fünf Jahren hatte der damals erst 21-jährige Womé schon einmal Verantwortung übernommen und im olympischen Finale von Sydney mit dem entscheidenden Elfmeter gegen Spanien die erste Goldmedaille überhaupt für Kamerun gewonnen. Als Volksheld haben sie ihn einst in der Heimat empfangen, nun kennt er leider eben auch die andere Seite. Ihm ist wirklich zu wünschen, dass Familie und Freunde, vielleicht auch Psychologen, ihm helfen, diesen Fehlschuss schnellstmöglich zu verarbeiten. Allein wird damit niemand fertig.

Wer nach diesem grausamen Schlussakt noch von "Versagern" oder "Elfmetertrotteln" spricht, kann schlicht und einfach kein Herz haben.

(Christian Helms, sportal.de)

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