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Montag, 4. September 2006

Freistuss Nr. 37: Schwere Geburt, schönes Kind

Nicht mehr nur mit der Zusammen-, Auf- und Einstellung der Nationalmannschaft muss sich ein Bundestrainer heutzutage herumschlagen. Die öffentliche Wahrnehmung des Auswahlteams hängt längst nicht mehr ausschließlich von den sportlichen Ergebnissen ab, sondern in mindestens gleichem Maße vom Auftreten des Chefs.

Im Laufe seiner Amtszeit entwickelt dabei jeder Bundestrainer zwangsläufig seine ganz eigene Rhetorik; seine unverwechselbare Art, der Öffentlichkeit zu verkünden, wie der Gegner zu bezwingen sei, und nach dem Abpfiff zu erklären, warum es schließlich anders kam. Der Bundestrainer ist zudem spätestens in diesem Jahrzehnt zum nationalen Fußball-Vordenker aufgestiegen, dessen kurze Statements oftmals zu ganzen "Philosophien" aufgeblasen werden.

Ein kurzer Blick zurück: Rudi Völler trat noch meist im traditionellen Trainingsanzug vor die Kameras und analysierte in einfachen, klaren Worten des Deutschen liebstes Spiel. Ein Bundestrainer zum Anfassen – "unser Rudi" eben. Volksnah, bodenständig und emotional, im Erfolg wie in der Niederlage. Oder nach dem berühmten Remis von Reykjavik, als er den Dreiklang "Mist, Käse, Scheißdreck" in echte Klassiker des Fußballvokabulars verwandelte und ganz nebenbei Waldemar Hartmanns Trinkgewohnheiten hinterfragte.

Auch Nachfolger Jürgen Klinsmann brachte neben frischem Wind sein ganz persönliches Vokabular mit. Dank "Flat Four" und "konsequentem Vertikal-Spiel" zur erfolgreichen "Challenge 2006" – und immer schön positiv denken! Klinsmann räumte auf beim DFB. Reformgefährdende Objekte wie Sepp Maier oder der Singular verschwanden in der Mottenkiste, damit "wir das große Ziel Weltmeisterschaft nicht aus den Augen verlieren".

Wie wird Jogi Löw sich also positionieren? Bis zum Wochenende wirkte er bemerkenswert unaufgeregt, betont pragmatisch und dabei trotzdem keineswegs kühl und unsympathisch. Genau der richtige Mann für die undankbare Aufgabe, die Nationalelf nach der Euphorie des Sommers 2006 durch das trübe Fahrwasser der EM-Qualifikation zu navigieren. Doch nach dem knappen Sieg über die Iren sagte er leider etwas überraschend Bräsiges, das in seinem Klang eher and die Herren Ribbeck oder Vogts erinnerte: "Manchmal gibt auch eine schwere Geburt ein schönes Kind."

Sicher, der Bundestrainer war erleichtert über sein geglücktes Pflichtspieldebüt als Alleinverantwortlicher der Auswahlmannschaft, was allerdings keine Rechtfertigung ist, die Welt mit fragwürdigen Hebammenweisheiten zu versorgen. Schon am Mittwoch bietet sich Kalenderspruch-Jogi die Gelegenheit zur Wiedergutmachung. Aufmerksam sollte man die Pressekonferenz nach dem San Marino-Spiel verfolgen, noch ist das gebrannte Kind schließlich nicht in den Brunnen gefallen…

(Christian Helms, sportal.de)

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