Dienstag, 29. August 2006

Freistuss Nr. 36: Der Typ, der nur den Pfosten traf

Auf meiner Abi-Fahrt entschloss sich mein Jahrgangskollege Carsten während eines Fährausflugs durch die dänische Nordsee urplötzlich, die Tischdekoration zu verspeisen. Der ansonsten durchaus intelligente junge Mann hatte an diesem Nachmittag deutlich zu viel getrunken – kein Novum auf solcherlei Ausfahrten. Entsprechend reduziert war zu dieser Stunde sein Wortanteil, entsprechend leer sein Blick.

Überraschend koordiniert ergriff er allerdings in jenem historischen Augenblick die in der Tischmitte platzierten Blumen, führte sie ebenso zielsicher zum Mund und kaute emotionslos darauf herum. Ich glaube bis heute, er tat es nicht, um damit seinen spätpubertären Schulkameraden zu imponieren; vermutlich hielt er es in der konkreten Situation einfach für die richtige Entscheidung.

Auf unserem letzten Klassentreffen wurde diese mittlerweile fast ein Jahrzehnt alte Anekdote natürlich wieder hervorgekramt. Ein absoluter Klassiker! Es schien, als sei Carsten nie mit uns zur Schule gegangen, sondern nur für einen kurzen Moment an diesem Tisch aufgetaucht, um sich als passionierter Pflanzenfresser zu outen. Viele erinnerten sich nicht einmal mehr an seinen Namen, für sie war er nur "der Typ, der die Blumen fraß". Für alle Zeiten definiert über einen einzigen geistlosen Auftritt.

Ob Frank Mill gelegentlich nach dem achten Weinglas in den Garten schleicht und verschämt an den Orchideen knabbert, weiß ich nicht. Wohl aber, dass er heute nicht etwa als 17-facher Nationalspieler in Erinnerung ist, sondern vor allem als "der Typ, der am 9. August 1986 im Münchener Olympiastadion nicht das leere Tor, sondern nur den Pfosten traf". Weit über einhundert Treffer hat Frank Mill in eineinhalb Jahrzehnten Bundesliga erzielt, allerdings erzählt man sich bis heute bevorzugt die Geschichte von dem einen Tor, das er letztlich eben nicht machte. So auch an diesem Wochenende.

Roy Makaays spektakulärer Fehlschuss gegen den 1. FC Nürnberg wird ganz sicher in diversen Saisonrückblicken auftauchen, in ein paar Jahren wird sich hingegen kaum mehr jemand an seinen Fauxpas erinnern. Schlicht und ergreifend, weil Frank Mill diese Nische für alle Zeiten besetzt hält. Wo immer ein Stürmer das leere Tor kläglich verfehlt, sind die Begriffe "Mill" und "Pfosten" nicht weit. Ein 20 Jahre alter Schutzschild für jeden versagenden Angreifer, hinter dem schon Stefan Kohn, Ioan Viorel Ganea oder Naohiro Takahara Zuflucht suchten. Und jetzt eben auch Roy Makaay.

Als Bundesliga-Stürmer hatte man ohnehin nie einen schlechten Job, im August 1986 verlor er aber auch noch seinen letzten Haken. Ebenso war übrigens die Schulzeit an sich schon nicht allzu übel, die verbleibenden zwei Monate nach dem legendären Zwischenfall auf der dänischen Fähre jedoch fast paradiesisch. Man durfte sich fortan beinahe so dämlich benehmen, wie man wollte, ohne um seinen Ruf fürchten zu müssen. Zumindest, solange man im Suff keine Zierpflanzen aß...

(Christian Helms, sportal.de)

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